Kulturgutentzug in Sachsen-Anhalt 1945–1990: Perspektiven der Aufarbeitung und der musealen Provenienzforschung

Kulturgutentzug in Sachsen-Anhalt 1945 – 1990: Perspektiven der Aufarbeitung und der musealen Provenienzforschung

Organisatoren
Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Museumsverband Sachsen-Anhalt e. V.
Ort
Magdeburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
20.10.2022 - 20.10.2022
Von
Wolfram von Scheliha, Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur; Annette Müller-Spreitz, Koordinierungsstelle Provenienzforschung, Museumsverband Sachsen-Anhalt e.V.

Kulturgutentziehungen fanden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ, 1945–1949) und in der DDR (1949–1990) im Zusammenhang mit der Bodenreform, Enteignungen, Aussiedlungen und Republikflucht, aber auch durch andere willkürliche staatliche Zwangsmaßnahmen wie überhöhte, rückwirkende und dadurch unbezahlbare Steuerbescheide statt. Zu Unrecht gelangten so Kunstwerke, Möbel, Porzellane, Bücher usw. in den staatlichen Kunsthandel der DDR zum Verkauf in die Bundesrepublik und andere westliche Länder, oder in den Besitz von Privatpersonen und Museen in der DDR.

Obwohl die Antragsfristen zur Restitution entzogener Kulturgüter bereits zum 31. Mai 1995 abgelaufen sind, haben die für die Regelung offener Vermögensfragen zuständigen Behörden noch längst nicht alle Verfahren abgeschlossen. Allein schon diese Tatsache deutet die riesige Menge an Kunstwerken und kunsthandwerklichem Kulturgut an, die aus politischen Gründen zwischen 1945 und 1990 Privatbesitzern entschädigungslos weggenommen wurden. Aber auch unabhängig von konkreten Rückgabeforderungen machen sich zunehmend Museen daran, ihre Sammlungen nach entzogenem Kulturgut zu durchforsten. Hierbei spielen museumsethische Motive, nämlich die genaue Herkunft eines Objekts genau nachzuweisen, ebenso eine Rolle wie die Frage von Rechtssicherheit: Lohnt es sich, ohnehin knappe Mittel in die aufwändige Restaurierung eines Objektes zu investieren, wenn unsicher ist, ob es dem Museum auch wirklich gehört? Gerade kleinere Museen auf Kreis- und kommunaler Ebene sind jedoch aufgrund ihrer geringen personellen Ausstattung oft nicht in der Lage, die Provenienz ihrer Objekte gründlich zu erforschen. Ziel des von der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und dem Museumsverband Sachsen-Anhalt organisierten Fachtags war es, die verschiedenen Akteure auf dem Gebiet von Kulturgutentzug und Provenienzforschung in Sachsen-Anhalt, Museumsfachleute, Betroffene von Kulturgutentzug, Vertreter von Politik, Verwaltung und Kommunen erstmals zusammenzubringen, um sich gemeinsam über die Perspektiven der künftigen Arbeit auszutauschen.

KONRAD BREITENBORN (Wernigerode) berichtete in seinem Eröffnungsvortrag von den Anfängen der Kulturgut-Restitution in den 1990er-Jahren und den Bemühungen, dabei möglichst praktikable Lösungen für alle Beteiligte zu finden. Er verwies auf eine von ihm miterarbeitete und manchen jüngeren Forschern heute unbekannte Handreichung1, die später in allen ostdeutschen Bundesländern Verwendung fand.

Eine zunehmende Sensibilität bei Museumsleuten mit Blick auf die Herkunft der Sammlungsobjekte konstatierte MATHIAS DEINERT (Magdeburg). Während früher die Auffassung vorherrschte, die Museen müssten alle Objekte sichern, und man Provenienzfragen allenfalls als ein notwendiges und von außen herangetragenes Übel betrachtete, habe die museumsethische Selbstverpflichtung des International Council of Museums (ICOM) von 1987 einen allmählichen Paradigmenwechsel eingeleitet. Deinert warb dementsprechend für eine „proaktive und transparente Provenienzforschung“, die über den Herkunftsnachweis auch einen Erkenntnisgewinn zur inhaltlichen Erschließung und Kontextualisierung der Objekte biete.

Die sehr komplexe Geschichte des Kulturgutenzugs im Zuge der sogenannten Bodenreform beleuchtete JAN SCHEUNEMANN (Halle). Denn der euphemistisch in den Quellen als „Bergung“ bezeichnete Kunstraub zog sich oft über mehrere Jahre hin. Aus den etwa 3.000 enteigneten Gütern Sachsen-Anhalts transportierten die Behörden 1.133 Tonnen Kulturgut ab. Ein Teil der Stücke strandete in Lokalmuseen, aber auch in den beiden Zentraldepots auf der Moritzburg in Halle und im Schloss Wernigerode. Von dort erfolgte die weitere Verwertung. Viele Stücke landeten im staatlichen Kunsthandel, der sie für westliche Zahlungsmittel, Devisen, verkaufte. Weite Teile des Bestandes ließen die Verantwortlichen aber auch vernichten, weil sie beschädigt waren oder als künstlerisch nicht wertvoll erachtet wurden.

Über die Verfahrensschritte bei der Bearbeitung von Restitutionsanträgen im Landesamt für die Regelung offener Vermögensfragen (LaRoV) informierte GUNDULA MAY (Halle). Der Beitrag machte deutlich, welche umfangreichen Prüfschritte vorgenommen werden müssen, bis ein früherer Eigentümer einen Gegenstand wieder entgegennehmen kann. Die Diskussion zu den Vorträgen dieses Panels drehte sich um die Frage, inwieweit sich die vom LaRoV gesammelten Daten für die allgemeine Provenienzforschung nutzbar machen lassen. Dem stehen jedoch individuelle Datenerhebungssysteme einzelner LaRoV-Mitarbeiter mit einer mitunter veralteten Software sowie vor allem Gründe des Datenschutzes entgegen. In dieser Frage wäre jedoch die Erarbeitung einer Lösung sehr wünschenswert.

Aus der Perspektive eines Kreismuseums verwies NADINE PANTELEON (Ummendorf) auf drei Probleme in ihrer Arbeit. Im Zuge von Museumsauflösungen oder Zusammenlegungen habe ihr Haus größere Sekundärbestände in die Sammlung aufgenommen, wobei diese Sekundärbestände mitunter lückenhaft dokumentiert und auch Bestandsverluste zu beklagen sind. Probleme verursachten auch eine teilweise lückenhafte Inventarisierung, wenn beispielsweise eine Tasche, nicht aber deren Inhalt verzeichnet worden ist. Kann bei einer Rückerstattung der Tasche auch der Inhalt an den früheren Eigentümer zurückgegeben werden? Zudem werde es, so Panteleon, mit fortschreitender Zeit immer schwerer, die tatsächlichen Rückgabeberechtigten zu identifizieren, weil Erbscheine häufig nicht über Generationen hinweg aufbewahrt werden.

Über Dachbodenfunde und seit Jahrzehnten ungesichtete, in Kisten verpackte Sekundärbestände mit teilweise fehlender Dokumentation berichtete ANTJE GORNIG (Halberstadt). Hier sei man dann meistens auf Hinweise von außen angewiesen, um überhaupt erst Ansätze für eine Provenienzforschung zu finden. Durch Rücksprachen mit anderen Museen lassen sich im Zuge der Bodenreform und im Laufe der Museumsprofilierung verlorene Sammlungszusammenhänge wieder herstellen. Die Veröffentlichung der Funde und Forschungsschritte findet große Aufmerksamkeit auch in den Sozialen Medien und zeigt die Relevanz der Objektgeschichten.

Ihre Recherchen zum Rücklass des im Mai 1953 in den Westen geflohenen Arztes Dr. F., der sich im Schlossmuseum Bernburg befindet, stellte SOPHIE KAMPRAD (Leipzig) vor. Sie veranschaulichte den sehr hohen Aufwand selbst bei einem vergleichsweise überschaubaren Bestand, der bei der Provenienzforschung erforderlich ist. Gleichzeitig verdeutlichte ihr Beitrag das große Erkenntnispotential, das mit der Provenienzforschung einhergeht, indem Kamprad Ausschnitte eines Zeitzeugeninterviews – ein bis dato kaum in dem Zusammenhang gebrauchtes, aber relevantes Recherchemittel – mit einer Nachbarin der Familie F. hinsichtlich der Zeit deren Flucht abspielte. Die Gegenstände können dadurch über ihre Bedeutung als künstlerische oder kunstgewerbliche Objekte hinaus auch für die Erzählung der kulturhistorischen und gesellschaftlichen Zustände zum Zeitpunkt ihres Entzuges in der musealen Arbeit nutzbar gemacht werden und erhalten dadurch eine zusätzliche Dimension.

Die abschließende Podiumsdiskussion arbeitete noch einmal die Problematik des konkreten Eigentumsnachweises heraus. ELISABETH SALOMON (Gladigau) verwies darauf, dass die von Kulturgutentzug Betroffenen nur in Ausnahmefällen Inventarbücher geführt hätten, ein schriftlicher Eigentumsbeleg daher schwierig sei. Die Betroffenen wünschen sich eine Umkehr der Beweislast sowie die Möglichkeit einer erneuten Antragstellung auf Restitution. GILBERT LUPFER (Magdeburg) sprach in diesem Zusammenhang von einem Dilemma, denn viele Museen seien zur Rückgabe bereit, könnten aber ohne genaue Identifizierung des tatsächlichen Eigentümers nicht handeln. Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste habe aber ein Rechtsgutachten zu dieser Frage in Auftrag gegeben, das geeignete Handlungsoptionen enthalten soll. Es werde in absehbarer Zeit veröffentlicht. Lupfer verwies auch auf die unterschiedliche Rechtslage in Ost und West. Bei Kulturgut, das über einen Verkauf durch die Kommerzielle Koordinierung in ein westdeutsches Museum gelangt sei, bestehe kein Anspruch auf Rückgabe. BERNWARD KÜPER (Magdeburg) berichtete aus eigener Erfahrung von einem weitgehend fehlenden Bewusstsein bei kommunalen Amts- und Mandatsträgern für die Problematik des entzogenen Kulturguts und schlug die Erarbeitung einer Handreichung für die Verwaltungs- und Museumsmitarbeiter vor. Diese Anregung griff ULF DRÄGER (Halle) bereitwillig auf und betonte, dass man bei der Restitution keine Fehler machen dürfe, denn ein einmal zurückgegebenes Objekt würde man kaum mehr zurückbekommen. Einig waren sich alle Gesprächsteilnehmer, dass vor allem die Politik gefordert sei, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Rückgabe von entzogenem Kulturgut zu setzen und auch die institutionelle und finanzielle Grundlage für die Provenienzforschung gerade auch für kleinere und mittlere Museen zu erweitern. Aufgrund der begrenzten Zeit ließen sich nicht alle Fragen mit der gebotenen Ausführlichkeit diskutieren. So kam zum Beispiel die wichtige Chance zur Vermittlung der Herkunftsgeschichten derartiger Objekte sowie der damit verbundenen Schicksale der von SBZ/DDR-Unrecht Betroffenen in den Museen nur am Rande zur Sprache. In einer Broschüre der Veranstalter heißt es zum Beispiel zum zurückgelassenen Hab und Gut einer in die Bundesrepublik geflüchteten Familie: „Was würden die Nachfahren davon halten, wenn sie davon erführen? Wie würde die Aufarbeitung die Vermittlungsarbeit am Museum beeinflussen?“2

Die Tagung hat gezeigt, wie fruchtbar eine engere Vernetzung der verschiedenen Akteure auf dem Gebiet der Aufarbeitung von Kulturgutentzug und Provenienzforschung ist, um das Verständnis für die unterschiedlichen Perspektiven zu schärfen und Synergien für die künftige notwendige Arbeit, am besten eine fallbezogene Provenienzforschung, zu gewinnen. Offengeblieben ist, wer welche Ressourcen für Forschungsarbeit, Weiterbildung und Auskunftsfähigkeit unserer Museen bereitstellt. Im Fazit bleibt der auf dem Fachtag thematisierte Bereich der Provenienzforschung – in Abgrenzung zur Erforschung von NS-Raubgut und kolonialen Kontexten – ein wichtiger Baustein, um deutsch-deutsche Geschichte zu verstehen und ein Stück eigene Identität wiederherzustellen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Birgit Neumann-Becker (Magdeburg), Ulf Dräger (Halle), Staatssekretär für Kultur Sebastian Putz (Magdeburg)

Einführung
Konrad Breitenborn (Wernigerode): Kulturgutentzug und Provenienzforschung – eine Herausforderung für Sachsen-Anhalt seit 1990

Panel 1: Provenienzforschung in Museen
Moderation: Wolfram von Scheliha

Mathias Deinert (Magdeburg): Provenienzforschung 1945–1990 als museumsethisches Desiderat

Jan Scheunemann (Halle): Sicherstellung, Verwertung, Rückübertragung. Die Moritzburg in Halle (Saale) als Zentraldepot für Kunst- und Kulturgut aus der Bodenreform

Gundula May (Magdeburg): Daten zu entzogenem Kulturgut im Bereich des Landesamtes zur Regelung offener Vermögensfragen

Panel 2: Kulturgutenzug in Sachsen-Anhalt
Moderation: Annette Müller-Spreitz

Nadine Panteleon (Ummendorf): 450 Mal Provenienz: Bodenreform – offene Stellen in der Aufarbeitung im Börde-Museum

Antje Gornig (Halberstadt): Fremdbestimmter Sammlungszuwachs: staatliche Zuweisungen ohne genaue Herkunftsangaben im Städtischen Museum Halberstadt

Sophie Kamprad (Heringen): Ein Flüchtlingsrücklass im Museum Schloss Bernburg und dessen ausufernde Aktenlage

Podiumsdiskussion: Perspektiven der musealen Provenienzforschung in Sachsen-Anhalt
Moderation: Birgit Neumann-Becker

Gilbert Lupfer (Magdeburg)
Ulf Dräger (Halle)
Elisabeth Salomon (Gladigau)
Bernward Küper (Magdeburg)

Anmerkungen:
1 Handreichung zur Verfahrensweise bei Anwendung des Ausgleichsleistungsgesetzes und zum Umgang mit Kunst- und Kulturgut, das in der Nachkriegszeit auf besatzungsrechtlicher bzw. besatzungshoheitlicher Grundlage enteignet wurde, hrsg. vom Kultusministerium Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1997.
2 Fremdes Eigentum. Entzogene Kunstwerke in Museen und die Erforschung ihrer Provenienzen. (anlässlich des Fachtages „Kulturgutentzug in Sachsen-Anhalt 1945–1990: Perspektiven der Aufarbeitung und der musealen Provenienzforschung“, 20. Oktober 2022), hrsg. von Museumsverband Sachsen-Anhalt e. V., 2022, S. 15.

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